Früher oder später erreichen Menschen einen Punkt, an dem sie innehalten und zurückschauen auf ihr bisheriges Dasein auf Erden. Und es ist eine Kalenderweisheit, dass der Lebensweg in seltensten Fällen geradeaus geht. Biegungen, Kreuzungen und Weichen kennzeichnen die Pfade, die wir zu beschreiten haben. Nicht selten stellt man sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das alles nicht hätte anders laufen können. Wie wäre das Leben vonstatten gegangen, wenn man sich beispielsweise mit seiner ersten Liebe nicht überworfen oder das abgebrochene Studium durchgezogenn hätte. Unser Leben ist eine Kette von Entscheidungen darüber, wie wir unsere Existenz ausfüllen wollen und wie nicht.

Hier setzen L'âme Immortelle an und beschäftigen sich auf "Ungelebte Leben", dem 13. Album des österreichischen Duos, mit Lebensentwürfen, die man hat verstreichen lassen. Der Ausgangspunkt für dieses Gedankenspiel ist ein radikaler: das Sterbebett. Sängerin Sonja Kraushofer und Musiker Thomas Rainer erklären über ihre sozialen Kanäle, dass "Ungelebte Leben" den Moment einfangen soll, in dem einen bewusst wird, dass man aus der Welt scheidet und das Erlebte noch mal Revue passieren lässt. Die Fragen, die sich dabei vielleicht ergeben, bilden die textliche Grundlage des Albums.

Über allem - und daher folgerichtig an den Anfang von "Ungelebte Leben" positioniert - steht die Frage: "Was wäre, wenn?". Im Verlauf des Werkes manifestieren sich Selbstzweifel wie in "Nie genug" oder großes Bedauern, über die "Regret" handelt. Schließlich kulminiert das Gedankenspiel im Titelsong in die ultima ratio: carpe diem, verdammt noch mal! Nutze den Tag. An sich eine Plattitüde, die von L'âme immortelle aber in großartige Grandezza gekleidet wird.

Ja, es scheint sogar, als habe das Zweiergespann diese Ermahnung auch in ihre Musik eingebaut. Jedenfalls wirken die Songs so abwechslungsreich wie lange nicht mehr. "Nie genug" kommt mit einer kantigen Synthielinie, die einem Chris Corner alias IAMX zur Ehre gereichen würde, während "Weit fort" ein astreiner Abtanz-Electro-Song ist, der nur durch Rainers verzerrten Gesang eine leichte Störnote erhält, auf "Own Ways" indes ist Sonjas bislang beste gesangliche Darbietung zu hören, gebettet auf einen dezent souligen 80s-Pop.

Trotz eines groß angelegten Stilmix bleiben die beiden im Kern ihrer Linie treu. Sonja Kraushofer ist nach wie vor eine der besten Chanteusen im Schwarzkittel-Segment; ihr Organ veredelt die LAI-Stücke, die teilweise von Thomas' kratzigen Organ durchpflügt werden. Der Mann weiß mittlerweile genau, wie er sein Sangestalent, das - und das ist natürlich keine großartige Erkenntnis - bei Weitem Sonja nicht das Wasser reichen kann, einsetzt, um einen dynamischen Kontrapunkt zu bilden. Auf "Ungelebte Leben" ist ihm dies besonders gut gelungen. Die finale Abmischung durch Krischan Jan-Eric Wesenberg (Rotersand) hat sicherlich sein Übriges dazu beigetragen.

Das Album ist ein einziger, groß angelegter Konjunktiv, aus dem sich substantielle Texte entwickelt haben, souverän von Sonja vorgetragen und stimmungsvoll von Thomas arrangiert. Damit gelingt L'âme Immortelle das Kunststück, Lieder zu komponieren, die routiniert, aber nicht langweilig klingen. Seit langem ist ihnen nicht mehr so ein überzeugender Longplayer gelungen. Ganz viel Herzblut stecke in "Ungelebte Leben" laut eigener Aussage. Eine von Künstlerinnen und Künstlern, aber auch von der schreibenden Zunft, gern benutzte, oftmals hohle Phrase: Hier ist sie allerdings uneingeschränkt glaubwürdig. "Ungelebte Leben" bewegt sich qualitativ fast auf einer Linie mit ihrem mittlerweile 20 Jahre alten Meisterwerk "Als die Liebe starb".