Unglaublich, welche Blüten der Fan-Kult treiben kann. So stellte irgendwann der Club der argentinischen Lacrimosa-Anhänger in einer Statistik fest, daß „Sehnsucht“ das meistverwendete Wort im bisherigen Schaffen des Duos ist. Ob sich Mastermind Tilo Wolff bei der Namensgebung des 10. Studioalbums davon beeinflussen ließ, ist fraglich, aber dieser prägnante Begriff zieht sich tatsächlich wie ein roter Faden durch die mittlerweile 19-jährige Bandgeschichte Lacrimosa's.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, daß, abgesehen vom Titel des Openers, das Wort „Sehnsucht“ in den Texten dieses neuen Silberlings gar nicht erscheint. Trotzdem ist das Verlangen in seinen verschiedenen Ausprägungen allgegenwärtig, wobei die über 8-minütige Eröffnung „Die Sehnsucht in mir“ am Lacrimosa-typischsten darauf Bezug nimmt. Eingebettet in zunächst verhaltene, später opulent arrangierte Orchesterklänge der Spielmann-Schnyder Philharmonie, sind es harte Gitarrenriffs, die den Spannungsbogen aufbauen und das Stück vorantreiben. Mit „Mandira Nabula“ folgt ein rhythmischer Rocksong, der durch ein Akkordeon eine beinahe volkstümliche Note erhält und Aufbruchstimmung versprüht.

Überhaupt verkörpern Tracks wie das metalorientierte „Feuer“, dessen Rauheit durch einen Kinderchor kontrastiert wird, oder das eingängige „I lost my star in Krasnodar“ die aufbegehrende Seite der Sehnsucht. Die Herausforderung wird angenommen – besonders deutlich im abschließenden „Koma“, welches thematisch auf „Der letzte Hilfeschrei“ vom ersten Album „Angst“ zurückkommt. Während der zweitgenannte Titel aus dem Jahre 1991 noch von hoffnungsloser Agonie geprägt war, steht „Koma“ nun mit seinem schnellen Tempo ganz im Zeichen des Lebens. Und auch in den bedächtigeren Stücken schwingt trotz Melancholie oft eine kämpferische manchmal fast trotzige Grundstimmung mit. Sei es durch die Textzeile „...was folgt ist einerlei“ in „A.u.S. oder durch das spannungsgeladene Duett von Tilo Wolff und Anne Nurmi in „Der tote Winkel“, das musikalisch die emotionale Unsichtbarkeit überwindet.

Mein persönlicher Höhepunkt des Albums ist jedoch „Die Taube“, eine wunderschöne, klassische Ballade, in der die Stromgitarren schweigen und dem Orchester sowie Tilo's Stimme Raum geben. Diese Stimme kann auf „Sehnsucht“ abermals durch ihre bedingungslose Leidenschaft überzeugen. Wenngleich sich mit „A prayer for your heart“ wieder ein von Anne Nurmi intoniertes Lied auf der Scheibe befindet, so ist es doch der mal weiche, mal fordernde oder schrille Gesang Tilo Wolff's, der letztendlich Lacrimosa ausmacht und der die schwarze Gemeinde seit jeher in Fans und Gegner spaltet. Daran wird auch „Sehnsucht“ nichts ändern und das ist gut so!