Welche Erwartungen hat man an eine Platte mit dem illustren Titel „Hodenkapsel“? Wie werden diese Erwartungen durch Songtitel wie „Jesus Christus Schluckt“ oder „Sex Mit Einer Leiche“ beeinflusst? Und wird es besser, wenn das vierseitige Booklet mit Bildern gespickt ist, die das Musikerduo mit blutverschmierten Körpern zeigt? Genau diese Fragen musste ich mir stellen als „Hodenkapsel“ von Industriegebiet auf meinem Tisch landete. Bei diesem Batzen greller Klischees läuft das Wort Zynismus in blinkenden Buchstaben durch meinen Kopf. Na hoffentlich bleibt es nicht nur bei einem Augenzwinkern, sondern macht sich Industriegebiet auch ritterlich auf den Weg die gute alte elektronische Musik vor der Verwahrlosung zu retten. Auf geht’s… Begrüßt wird man von einer Strombergschen Kalenderweisheit: „Bin ja quasi die perfekte Mischung aus jung und sehr erfahren. Das gibt’s ja in der Form sonst nur auf dem Straßenstrich.“ Das ist dann auch der Weisheit letzter Schluss. Musikalisch bewegen wir uns in durchaus bekannten und bereits hundertfach gehörten Bereichen. Mastermind und Szene-DJ Maximall Wall wechselt in den folgenden knapp 53 Minuten zwar gern zwischen den verschiedenen Schubladen des Elektro-Genres, ein Drang nach erkennbarer Abwechslung ist jedoch nicht zu erkennen. Bereits zum fünften Mal dreht sich die Platte in Dauerrotation durch meinen Player und der große Aha-Effekt bleibt aus. Was aus meinen Boxen kracht ist reine Tanzmusik. Genau richtig für eine durchtanzte Nacht im Partykeller um die Ecke. Am nächsten Morgen weiß man, das man richtig viel Spaß hatte. An einen einzelnen Titel kann man sich nicht erinnern. So geht es mir mit „Hodenkapsel“. Einzelne Zitate oder sarkastische Provokationen fallen mir ein, konkrete Melodiesequenzen – Fehlanzeige. Für die heimische Anlage wirkt alles doch etwas fad und blass. Der kraftvoll technoid hämmernde Sound rückt bei anderweitiger Ablenkung allzu schnell in den Hintergrund und rauscht eindruckslos am Ohr vorbei. Mit der richtigen Lautstärke im Autoradio möchte man dagegen am liebsten gleich den nächsten Club ansteuern. Szene-DJ Wall ist eben vom Fach und weiß was auf den dunklen Tanzflächen dieser Welt funktioniert. Energiegeladen und einfach soll es sein und aggressiv nach vorn gehen. Das nennt man dann z.B. „Musikalische Früherziehung“. Aber was mache ich nur mit dieser „Hodenkapsel“? Es ist zu gut ist um schlecht zu sein, aber auch zu schlecht um wirklich gut zu sein. Als würde man 53 Minuten auf der Autobahn immer Mittelspur fährt. Man überholt keinen, wird aber auch nicht überholt. Ganz schön langweilig. Da wünscht man sich doch irgendwie den blockierenden Hutfahrer – über den kann man sich wenigstens aufregen. Aber nicht einmal den gibt mir Industriegebiet. Nicht einmal einen richtig schlechten Song über den man sich aufregen kann oder der zumindest so nervt, dass du dich mindestens an die miserable Melodie erinnerst oder den so ärmlichen aber gemeiner Weise doch so eingängigen Ohrwurmrefrain den ganzen Tag summst. Industriegebiet liegt eben irgendwo dazwischen. Genau in der Mitte – bei 3 Punkten.