Der Begriff des "Ausnahmetalents" wird gerne und inflationär überstrapaziert. Bei Chris Corner allerdings kann diese Beschreibung ohne falsche Scham angewendet werden. Denn was der gebürtige Brite, der zunächst in Berlin weilte und mittlerweile in Kalifornien seine Zelte aufgeschlagen hat, unter dem Moniker IAMX an musikalischen Ergüssen der Öffentlichkeit darbietet, entzieht sich tatsächlich einer definitven Kategorisierung. Dafür schlägt Corner innerhalb seines Oeuvres zu viele stilstische Haken. Nur eines bleibt konstant: der Hang nach theatral-emotionalen Momenten und unkoventionellen Sounds.

Schon zu Beginn seiner Karriere, damals noch mit den nicht minder geliebten Sneaker Pimps, mischte er die Indie-Szene ordentlich auf, ehe er Mitte der 00er Jahre als IAMX einen dunkelbunten Kosmos zu erschaffen begann, der spätestens mit dem zweiten Album "The Alternative" auf die perfekte Mischung aus dekadenter Elektronik und stimmlicher Grandezza zusteuerte und 2009 mit "Kingdom Of Welcome Addiction" einen absoluten Meilenstein bereithielt, auf dem sich Glam, Elektro und Gothic zu einem hochdramatischen Monstrum vereinen. Corner, selbst ein sensibler, von Depressionen heimgesuchter Mensch, springt mit Anlauf in die Emotionen seiner Songs, die auch immer ein Stück weit Selbsttherapie sind. Dabei nimmt er wenig Rücksicht auf die Hörer (oder sich) und verdingt sich teilweise in unkonventionelle Werke wie "Machinate", einem quasi Instrumental-Album, das nur auf Klängen aus Modular-Synthesizern besteht, oder "Echo Echo", auf dem bereits veröffentlichte Songs in einem reduzierten Akustikgewand präsentiert wurden. Selbst die letzten, weniger intensiv wirkenden Studioalben wie "Metanoia" (2015) und "Alive In A New Light" (2018) residieren auf einem qualitativ hohen Level.

Mit "Fault Lines¹" scheint er aber seine Liebe zur hedonistischen Grandezza wiederentdeckt zu haben. Zudem ist das Spiel mit den Sounds neu erblüht. Das macht bereits "Disciple" klar. Über eine brodelnde EBM-Linie, die glatt aus dem DAF-Repertoire stammen könnte, lässt er ein arhythmisch stolperndes Schlagwerk nur auf dem ersten Takt ertönen. Das ist ein perfektes Spiel mit den Erwartungen. Anstatt einen fast zwingend logischen Vierviertelbeat hinzuklatschen, schichtet er erst mal die verschiedenen Sounds plakativ nebeneinander, um dieser Nummer einen final majestätischen Abgang zu verpassen.

Bereits jetzt ist klar: Das Album wird groß. Denn wie bei "In Bondage", einem der schönsten Nummern, hat Chris Corner die große Geste zurückerobert und setzt ihr eine Mitternachtselektronik entgegen, die gleichzeitig vertrackt in ihrer Rhythmik und dandyhaft-melancholisch in ihren Melodien ist - im Grunde also alle Zutaten besitzt, die das hedonistische Werk "Kingdom Of Welcome Addiction" so großartig haben werden lassen. Auf "Fault Lines¹" ist diese Energie wieder spürbar und tritt bei Songs wie "The X ID" deutlich hervor. Da wird selbst "Radical Self-Love" als ruhige Ballade dank Corners Pathos zu einem Versuch, in Schönheit zu sterben, zu einem großen Moment ähnlich wie bei "This Will Make You Love Again" aus "The Alternative".

Am Ende des mittlerweile elften Studioalbums wagt der charismatische Chris noch einmal eine auditive Grenzerfahrung. "Army Of The Winter Sun" kreuzt die sehr intim aufgenommenen Gesangsspuren mit einem Sound, dessen Dissonanz sich zunächst noch hinter Pianolinien versteckt, aber mit jedem weiteren Takt nach vorne drängt, ehe am Ende ein surrealisches Klanggebilde entsteht, das relativ unvermittelt abbricht und die Eigenschaften eines Cliffhangers hat. Nicht umsonst, denn wie die hochgestellte Zahl in "Fault Lines¹" es andeutet: Da kommt noch mehr! Deswegen fällt dieses Album mit acht Songs und 35 Minuten relativ kurz aus. Wird der zweite Teil auch nur im Ansatz so überschwänglich wie der erste, hat IAMX ohne Zweifel nicht nur eines ihrer besten Alben realisiert, sondern den Nimbus als "Ausnahmetalent" ein für alle mal und unwiderruflich zementiert.