Mit einem vibrierenden Ton, einer langsamen Pianomelodie und Oswald Henkes unnachahmlicher Stimme beginnt das zweite Werk von Henke. "Liebe mich und töte dafür mein Herz" – dieser von einer wunderschönen Melodie getragene Satz könnte fast aus dem Goth-Generator stammen und verschreckte mich zunächst. Denn obschon Oswalds Stimme innerhalb dieser Band nicht im Zentrum steht sondern den Melodien viel Raum lässt sind meine Erwartungen an die Texte aus seiner Feder sehr hohe. Doch "Dokument 2" ist der vor allem musikalisch starke Einstieg in ein Album, das sich textlich deutlich in eine Richtung bewegt und auf ganzer Linie überzeugen kann (und zugegebenermaßen ist der restliche Text des Liedes über die Frage, wie Vergangenes erhalten bleibt und wer bestimmt, was erhalten bleibt, äußerst gelungen).

Bewusstseinsverändert folgt danach die Reise über den "Valiumregenbogen", musikalisch stark in Richtung Interpol oder Editors gehend treibt das Stück irgendwo zwischen Rock und epischen Wave voran um dann im ruhigen "Rote Irrlichter" am Straßenrand zu enden. Oswalds Stimme hierbei zwischen Zerbrechlichkeit und Verzweiflung, das Stück knapp am Kitschgrenzstein angelangt. Losgelöst und schwelgend treibt man in "Grauer Strand" wieder etwas aufwärts. Nach 2 guten und 2 soliden Stücken beginnt für mich das eigentliche Album mit "Zeitmemory". Denn das nun deutlich eingeführte Thema "Zeitgefühl, Vergessen und Unsicherheit im Jetzt" wird musikalisch genial verarbeitet. Oswalds Stimme einfach großartig, der Text ergreifend – dieses Stück haut um oder man ist bei Henke falsch. "Vergessen" setzt das thematische Kernmotiv des Albums fort, die Musik dabei fast schon eher trauriger Pop. Irgendwo zwischen Elektronik und vermuteter Brachialität schützt das verzweifelte Ich sich im zur Albumhälfte plazierten "Epilog" mit Wut. Fast schon apokalyptisch der Refrain von "Fernweh ist", das eher den Wunsch zur Flucht aus dem Ich beschreibt als eine Reiselust.

Die letzten Stücke kosteten Kraft. Und so verbleibt das Ich unsicher und desorientiert in "Ein Jahr als Tag", zunächst nur begleitet von Piano und dezentem Keyboardeinsatz. Das Titelstück "Maskenball der Nackten" treibt den Gedanken der Flucht vor dem eigenen Ich, dem Leugnen, weiter fort. Zu einem ¾ Takt treibt man melancholisch dahin (und erinnert sogar kurz an The Dresden Dolls). "Nur allein" ist noch einmal ein tieftrauriges und wunderschönes Stück und "Medea" die vermutlich abschließene Lösung des Themas. Denn Medea hat sich entschieden, zu leugnen und zu vergessen. Oder hat sie sich gar nicht entschieden? "Maskenball der Nackten" ist näher an Goethes Erben als noch das Debut "Seelenfütterung". Aber nicht musikalisch: Ist man auch weg von den rockigen Klängen eines "Weil ich es kann" oder "Ich protestiere" ist der Band Henke zueigen, dass die Melodien nicht nur Fundament für die Texte sind.

Hier hat man Großes geleistet – nahezu alle Stücke des Albums können melodisch überzeugen. Abwechslungsreich, viele Stile verwendend, episch, zerbrechlich, traurig, überschwenglisch, wütend und vor allem emotional berührend. Doch auch die Texte um das spätestens zum 5ten Track deutlichen Kernthemas laden zum Nachdenken ein. Das Altern, das Vergessen und die Wahrnehmung der Zeit – nie komplett greifbar (Geht es um das Altwerden, Flucht als Schutz, Alltagstrott oder gar Altersvergesslichkeit/Demenz? Diskussionen im Freundeskreis brachten keine genaue Lösung) lassen die Texte viele Fragen offen und Vermutungen zu. So kann man nur seinen Hut ziehen vor einer jungen Band, die Oswald Henke wirklich überzeugend ins Leben gerufen hat. Also zugreifen und unbedingt auch live mitnehmen.