’II. Kapitel’ von ’Erblast’ ist kein Album, das sich anbiedert – und es erscheint nicht zufällig unter diesem Namen. Auch wenn auf dem Artwork bewusst der Absender ’Goethes Erben’ präsent ist, handelt es sich hier meiner Recherche nach ganz ausdrücklich nicht um ein weiteres Werk der Band. ’Erblast’ markiert vielmehr einen anderen Rahmen: kleiner, freier, reduzierter, losgelöst von bandtypischen Erwartungen, Kanon-Diskussionen und dem Anspruch, ein „offizielles“ Kapitel der Bandgeschichte fortzuschreiben. Der sichtbare Bezug zu ’Goethes Erben’ verweist dabei auf die künstlerische Herkunft dieses Projekts, während ’Erblast’ den formalen und konzeptionellen Raum öffnet, in dem Entscheidungen möglich werden, die unter dem Bandnamen kaum denkbar wären – etwa der Democharakter als ästhetisches Statement, bewusste Verknappung oder das geplante Verschwinden der Musik.
In dieser Haltung liegt der Schlüssel zu ’II. Kapitel’. Dieses Werk wartet nicht auf Aufmerksamkeit, fordert keine Rezensionen ein und interessiert sich auch nicht für Reichweite im klassischen Sinn. Es ist nicht nur musikalisch reduziert, sondern auch in seiner Existenzform: zeitlich begrenzt, bewusst verknappt, dem schnellen digitalen Vergessen aktiv entzogen. Dass diese Musik nur für einen klar definierten Zeitraum existiert, macht ihre Vergänglichkeit selbst zu einem Teil des künstlerischen Ausdrucks – nicht als Verlust, sondern als bewusste Setzung. Schon der Hinweis, dass dieses Album am 31.12.25 vollständig gelöscht wird und ab 01.01.26 digital nicht mehr existiert, verändert die Perspektive. Man hört anders, wenn man weiß, dass etwas nicht jederzeit verfügbar ist. Man hört aufmerksamer, konzentrierter – und vielleicht auch ehrlicher.
Das Konzept von ’II. Kapitel’ ist untrennbar mit seiner Musik verbunden. Über zehn Monate hinweg, von März bis Dezember 2025, erschien jeweils ein neues Stück auf ’Bandcamp’ – ohne Streamingdienste, ohne Umwege. Im Dezember kamen zusätzlich die zehn CD-Versionen hinzu, sodass das Album nun aus zwanzig Titeln besteht: zehn Demoversionen und zehn CD-Fassungen. Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, sondern um Blickwinkel. Die Stücke wirken wie unterschiedliche Zustände desselben Gedankens, wie Momentaufnahmen eines fortlaufenden inneren Prozesses. Gerade der Begriff „Demo“ ist hier nicht als Vorstufe zu verstehen, sondern als bewusst gewählter ästhetischer Zustand – roh, offen und nicht endgültig abgeschlossen.
Musikalisch ist ’II. Kapitel’ von einer fast asketischen Klarheit geprägt. Die Arrangements sind reduziert, die Atmosphäre dunkel, oft schwer, aber nie effekthascherisch. Die Sprache von ’Oswald Henke’ steht im Zentrum, getragen von minimalistischen Klangräumen, die Raum lassen – für Interpretation, für Projektion, für eigene Gedanken. Diese Musik drängt sich nicht auf. Sie wartet. Und genau das macht sie so eindringlich. Man hört diesem Werk an, dass es nicht für den Massenkonsum produziert wurde. Die Stücke wurden laut eigener Aussage bewusst nicht teuer im Studio aufgenommen, sondern in Eigenregie im ’Erblast’-Wohnzimmerstudio realisiert und lediglich im Tritone Studio final abgemischt. Entstanden sind sie in enger Zusammenarbeit von ’Oswald Henke’ und ’Sebastian Böttcher’, die seit Herbst 2024 gemeinsam an diesem Zyklus arbeiten – was man der Musik als konzentrierte, dialogische Form deutlich anmerkt. Perfektion ist hier kein Ziel. Haltung schon. ’II. Kapitel’ klingt nicht unfertig, aber es klingt bewusst nicht glatt. Es darf Ecken haben, Brüche, Uneindeutigkeiten – genau wie die Themen, mit denen es sich beschäftigt: Wahrheit, Verlust, Erinnerung, Schmerz.
Ein zentraler Gedanke hinter diesem Album ist die bewusste Ablehnung von Bequemlichkeit. Musik soll nicht zwangsläufig jederzeit und überall verfügbar sein. Streaming mag für den Hörer komfortabel sein, entwertet aber gerade jene Musik, die jenseits massentauglicher Kreativität entsteht. ’II. Kapitel’ versteht sich als Gegenentwurf: Musik für Menschen, die bereit sind, sich einzulassen – und auch bereit sind, ihr einen fairen Wert beizumessen. Der Titel selbst ist dabei programmatisch: kein Neuanfang, kein Abschluss, sondern ein bewusst offenes Kapitel zwischen Vergangenem und Kommendem.
Diese Haltung spiegelt sich auch im Live-Konzept wider. Am 07.12.25 fand in der ’Kleinkunstbühne Bayreuth’ ein einmaliges Konzert statt, limitiert auf nur 99 Gäste. Alle Tickets wurden vergeben und es gab keine Abendkasse. Jeder Konzertbesucher erhielt an diesem Abend eine CD mit den zehn Stücken – persönlich überreicht. Diese CD ist ausschließlich für die Anwesenden bestimmt und wird nicht regulär verkauft oder verschickt. Musik als Moment. Als Begegnung. Als etwas, das man nicht nachholen kann.
Je länger ich mich mit ’II. Kapitel’ beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass dieses Album nicht darauf ausgelegt ist, vollständig „verstanden“ zu werden. Es will begleitet werden. Und innerhalb dieses Prozesses haben sich für mich drei Stücke besonders festgesetzt: ’Verschwunden’, ’Wiegenlied’ und ’Harlekin’. ’Verschwunden’ ist für mich eines der stillsten, aber zugleich bedrückendsten Stücke dieses Albums. Es wirkt wie ein langsames Ausbleichen, wie das Zurücklassen von etwas, das man nicht festhalten konnte. Ich habe dieses Stück mehrfach gehört, ohne es bewusst „zu mögen“ – und genau darin liegt seine Kraft. Es bleibt, gerade weil es sich entzieht. ’Wiegenlied’ hat mich auf eine andere Weise getroffen. Der Titel suggeriert Geborgenheit, Ruhe, vielleicht sogar Trost. Doch was sich darunter verbirgt, ist alles andere als harmlos. Für mich ist dieses Stück ein trügerischer Ruhepol, ein Moment, in dem man kurz glaubt, ankommen zu können – nur um festzustellen, dass die Unruhe darunter weiterarbeitet. Es ist eines dieser Stücke, die man leise hört und die dennoch lange nachhallen.
Und ’Harlekin’ steht für mich sinnbildlich für das gesamte ’II. Kapitel’. Die Figur zwischen Rolle und Wahrheit, zwischen Maske und innerem Kern. Dieses Stück fühlt sich fragil an, widersprüchlich, fast schmerzhaft ehrlich. Es ist für mich kein Song, den man einfach mal „nebenbei“ hören kann. Er fordert Aufmerksamkeit – und gibt im Gegenzug keine einfachen Antworten. Diese drei Stücke haben mich sicher nicht überwältigt, sondern langsam und Schritt für Schritt erreicht. Und vielleicht ist genau das die größte Qualität dieses Albums: Es arbeitet nicht mit Effekten, sondern mit Nachwirkung.
Nun, ’II. Kapitel’ ist Musik für Hörerinnen und Hörer, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – für ihr Hören, für ihre Aufmerksamkeit, auch für den Umgang mit Musik als Kunstform. Wer Playlists, Dauerverfügbarkeit und beiläufigen Konsum sucht, wird hier natürlich keinen Zugang finden. Wer jedoch Musik als bewusste Entscheidung versteht, als etwas Vergängliches und Wertvolles zugleich, findet in ’Erblast’ ein außergewöhnlich, bewegendes und konsequentes Werk. Vielleicht braucht dieses Album auch gar keine klassischen Rezensionen. Aber es braucht eher Menschen, die bereit sind sich darauf einzulassen. Und genau deshalb lohnt es sich, hier darüber zu schreiben – nicht als Urteil, sondern als persönlicher Eindruck.
Erblast - II. Kapitel
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