26. April 1986: Im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl ereignet sich die bislang schwerste Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Nach einem fehlgeschlagenen Experiment kommt es in Block 4 zu einer Kernschmelze, die sich in zwei gewaltigen Explosionen entlädt. Große Mengen radioaktiver Strahlung werden freigesetzt und kontaminieren zunächst die unmittelbare Umgebung, unter anderem die Stadt Pripjat. Deren Bevölkerung wird erst 36 Stunden nach dem Unfall evakuiert; weiter entfernt liegende Orte folgen Tage, Wochen oder gar Jahre später. Während sogenannte Liquidatoren einen Betonsarkophag um den havarierten Reaktor errichten, entsteht eine 4.300 km² große, nahezu menschenleere Sperrzone. Die offizielle Zahl der Todesopfer schwankt bis heute: Sie reicht von 26 (laut ZK der KPdSU im Juli 1986) bis hin zu mehreren Zehntausend (laut Greenpeace und WHO).
25. September 2009: Das spanische Projekt Der Blaue Reiter veröffentlicht sein drittes Album Nuclear Sun, gewidmet den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe.
Prologue: Es ist der Vorabend des Unglücks. Das Leben in Pripjat verläuft in gewohnten Bahnen. Man hört die lebensfrohe russische Volksweise Katjuscha, die nach und nach von Alarmsignalen überlagert wird und schließlich in eine melancholische Klaviermelodie übergeht. Wie ein Damoklesschwert liegt sie über den Geräuschen der fröhlich planschenden Children of Chernobyl.
First Episode (The Disaster): Im Fourth Reactor spitzt sich die Lage zu. Ein schriller Pfeifton und blecherne Funksprüche verbreiten Hektik, begleitet von kalten Percussions, aus denen dieser Track hauptsächlich besteht. Die Kettenreaktion ist nicht mehr aufzuhalten – doch statt eines Knalls setzen stille Pianoklänge und ein unheilvolles Zischen ein. In Radioactive entfaltet sich das Grauen mit dumpfen Schlägen und beinahe emotionslos rezitiertem Text. Die Uhr auf dem Cover zeigt 01:23 Uhr – der Moment der Explosion.
Second Episode (The Ghost City): The Last Days of Pripiath sind angebrochen. Orchestrale Harmonien vermitteln tiefen Schmerz, noch verstärkt durch dissonante Geräusche. Wie blanker Hohn wirken im Anschluss die ersten Takte der sowjetischen Hymne (Gimn Sowjetskowo Sojusa), die abrupt von zackigen Marschtrommeln abgelöst werden. Am 1st of May finden im ganzen Land Aufmärsche statt – auch in Kiew, unweit des Katastrophenorts, jubelt die nichtsahnende Menge. Der Rhythmus bleibt auch in Fall Of Light weitgehend bestehen, doch die Stimmung kippt. Zur vorherrschenden Verzweiflung gesellt sich eine unterschwellige Auflehnung, eindrucksvoll kontrastiert durch eine abgehackte, im Telegrammstil vorgetragene Zustandsbeschreibung.
Third Episode (The Heroes of Humanity): Als der Graphit im Reaktor brennt, eilt die örtliche Feuerwehr unvorbereitet zum Unglücksort – Walking To The Abyss. Der zerstörte Block wirkt wie ein Höllenschlund, aus dem dumpfe Geräusche dringen. Fast alle Feuerwehrleute sterben an den Folgen der Strahlung. Weinende Geigen stimmen ein Trauerlied an, doch die Bedrohung durch die Nuclear Sun ist noch lange nicht vorüber. Der gleichnamige Titeltrack ist der wohl düsterste der gesamten CD, er scheint direkt aus der Tiefe zu kommen: langsame metallische Percussions, dunkle Klangflächen und flüsternder Gesang machen das Ausmaß der Tragödie spürbar – bis schließlich eine leise Melodie den Hunderttausenden Liquidators gewidmet wird. Viele von ihnen leben heute nicht mehr oder leiden unter den Folgen ihrer Arbeit.
Trotz allem klingt in den abschließenden End Credits nicht nur Wehmut mit – im Gegenteil, es schwingt eine leise Aufbruchsstimmung mit. Sogar das eingangs gehörte Katjuscha wird erneut aufgegriffen. Hoffnung auf eine Rückkehr in die zerstörte Heimat? Hoffnung, dass die Menschheit aus dieser Katastrophe gelernt hat? Das Ende bleibt offen...
Lady Nott und Sathorys Elenorth haben mit Nuclear Sun jedenfalls eines bewiesen: dass sie sich nicht ohne Grund nach einer Künstlergruppe benannt haben. Vorwiegend gesanglose Ambient-Passagen, durchsetzt mit klassischen Anleihen und Martial-Folk-Elementen, malen Bilder im Kopf der Hörer – und machen Nuclear Sun zu einem bewegenden Mahnmal.
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Der blaue Reiter - Nuclear Sun
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