Den Hörer herausfordern, unvorhersehbar bleiben, in Bewegung bleiben. Nur selten können Bands oder Projekte diese Vorhaben aufrecht erhalten. Die wenigsten nehmen es sich überhaupt vor. Man wirkt dadurch unbequemer, man stellt eine Erwartung an den Hörer, die nicht kongruent ist mit der Dank moderner Medien allgegenwärtigen Verfahrensweise, Dinge innerhalb von Sekunden zu bewerten. "Höre mich ganz, höre mich bewußt, nimm dir Zeit." Genau das will das italienische Künstlerkollektiv Camerata Mediolanense und belohnt 2017 so ganz anders als noch auf "Vertute, Honor, Bellezza", das vor einigen Jahren den Einstand bei Prophecy Productions darstellte und mit fast schon poppiger Eingängigkeit und waviger Elektronik für Begeisterung und Enttäuschung gleichermaßen in der Hörerschaft sorgte. Und so, dass muss ich zugeben, waren für mich als "Vertute, Honor, Bellezza" Fan die ersten Lieder von "Le Vergini Folli" eine Enttäuschung. Ernüchtert musste ich feststellen, dass Camerata Mediolanense sich auf diesem Album für eine sehr reduzierte, natürliche Instrumentierung und wieder an frühere Werke erinnernde Melodik entschieden hatten. Im Zentrum Piano und weiblicher Gesang zurückhaltend gestützt durch Streicher, Glocken, männlichen Chorgesang - viel mehr findet sich nicht auf "Le Vergini Folli". Und auch die melodischen Motive wirken reduziert, eher klassisch und schwer italienisch. Das gesamte Album erscheint wie ein Reigen, Bilder italienischer Filme der 50er, 60er und 70er tauchen vor meinem geistigen Auge auf und Camerata Mediolanense verzaubern so gnadenlos unmodern, dass man volle Aufmerksamkeit braucht, um den Zauber zu erkennen. Und so nutze ich trotz der eben beschriebenen sommerlichen Bilder Italiens, die mir durch den Kopf gehen, die vorweihnachtliche Besinnlichkeit um "Le Vergini Folli" immer wieder zu hören. Es funktioniert erstaunlich gut - zwar ist mir das Vorgängeralbum sowohl aufgrund der mir näherstehenden Instrumentierung als auch aufgrund der leichteren Zugänglichkeit das nähere, aber "Le Vergini Folli" bleibt dennoch ein Kunstwerk erstaunlicher Überzeugnungskraft und Wirkung. Das Pendeln zwischen klassischer Sehnsucht und Melancholie und trotz minimaler Mittel perfekt inszenierter Dramatik, die Fähigkeit, mit wenigen Elementen und einer unaufgeregten Songstruktur dennoch in Bewegung zu bleiben - kurz das Album als Gesamtkunstwerk darf sich als ein ebensolches bezeichnen. Deswegen meine absolute Empfehlung, dem Album zumindest zwei oder drei Durchläufe zu geben um sich erst dann zu entscheiden.