Ein 'Atrium Carceri'-Album gleicht beim ersten Hören einem dichten Nebel, einem fremdartigen, düsteren Haus, das man sich nachts nur zögernd, Flur für Flur und Zimmer für Zimmer, erschließt. Jedes Stück dieses Albums entspricht dabei einem eigenen Raum, den zu betreten ein Erfolg für sich ist – doch dieser Triumph garantiert noch lange nicht den Zugang zum nächsten Raum. Die Entdeckung eines Tracks bedeutet jedoch unweigerlich, dass man sich, zumindest für eine Weile, in diesem unheimlichen Haus verloren fühlt. Simon Heath hat dieses musikalische Bauwerk mit der Präzision eines Architekten erschaffen: Jeder Klang, jede Emotion ist gewollt, exakt berechnet und meisterhaft inszeniert.
Wenn man so will, ist Souyuan das pure Produkt des Verstandes, eine kunstvoll durchdachte Komposition, die sich von spontanem Bauchgefühl distanziert. Klingt paradox? Ist es aber nicht – klassische Musik funktioniert schließlich ähnlich. Der Komponist packt Emotionen in eine hochkomplexe musikalische Form und öffnet dadurch Türen zu den verstecktesten Winkeln der Gefühlswelt, die Heath mit fast mathematischer Genauigkeit erkundet. So entstehen Stücke, die sich ständig verändern, Töne, die sich überlagern, und Klangtexturen, die gegeneinander kämpfen: Ein tiefes, bedrohliches Brummen wird etwa von spitzen, schneidenden Höhen zerteilt. Geradezu gespenstisch wirken die flüsternden, gestöhnten oder extrem verzerrten, fast ausgespuckten Worte, die sich wie zwei völlig verschiedene Dämonen anhören – beide unverständlich, aber unheimlich eindringlich. Stimmen durchziehen das gesamte Album wie ein verworrenes Netz. Sie verstärken die mystische Aura, da man nie weiß, was sie einem eigentlich sagen wollen.
Die musikalische Gestaltung des Albums ist bemerkenswert: Atrium Carceri koppelt meisterhaft Töne an Bässe und lässt die Tracks durch diesen pulsierenden Effekt förmlich atmen. Die spärlich eingesetzten Melodien entfalten dabei eine eindrucksvolle Tiefe, verstärkt durch melancholische Zwischentöne, die hin und wieder wie ein schmerzhafter Lichtstrahl durch die düstere Atmosphäre brechen. So entsteht ein Soundtrack, der nicht nur in den Kopf, sondern direkt unter die Haut geht – eine akustische Reise, die einen mit subtiler Wucht in die Psychiatrie der eigenen Gedanken schleudert. Doch dort kommt man niemals wirklich an, denn bevor man das Ziel erreicht, reißt das Album einen wieder aus seinem Bann.
Das größte Problem von Souyuan? Es scheint einfach zu kurz. Für eine Produktion, die über drei Jahre hinweg entstanden ist, wirken 45 Minuten Spielzeit fast mager. Aber das ist natürlich ein Trugschluss – die Intensität und Vielschichtigkeit des Albums sorgen dafür, dass man sich in dieser knappen Dreiviertelstunde regelrecht verliert. Und für den Fall, dass man am Ende trotzdem nicht genug hat, gibt es eine einfache Lösung: Noch einmal den grandios traurigen Klaviersong Alternate Sides auflegen und sich in dessen melancholische Schönheit fallen lassen.