Als Kind habe ich mich beim sonntäglichen Kirchgang immer wieder gefragt, ob der liebe Gott über die stets gleiche musikalische Darbietung einer stimmlich meist wenig gesegneten Gemeinde wirklich erfreut ist oder sich nicht eher entnervt die Ohren zuhält. Vielleicht hat sich Constantin Gröhn, Vikar und Elektronikmusiker aus Hamburg, irgendwann die gleiche Frage gestellt und deshalb 10 Künstler um eine Neuinterpretation altbekannter Kirchenlieder gebeten – ich weiß es nicht.

Wie dem auch sei, das Ergebnis „Neuklang Kirchenlied“ liegt nun in schlichter Aufmachung vor mir und ich bin gespannt, was den Beteiligten, die mir im übrigen allesamt unbekannt sind, zum Thema geistliche Musik eingefallen ist. Und – wow – der Opener „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ des Frankfurter Projekts arbeit reißt mich buchstäblich hinein in die CD und in ein düsteres Hinrichtungsszenario. Die fast nur auf den Gesang reduzierte Fassung des an sich schon bedrückenden Textes wird von brutalen Schlägen unterbrochen, die gleichfalls vor 2000 Jahren die Kreuzigung Jesu begleitet haben könnten. Ein wahrhaft beeindruckendes Werk. Leider wird man bereits beim nächsten Titel wieder in's Hier und Heute zurückgeholt. Lüül bewegt sich mit dem gitarrenbegleiteten „Es kommt ein Schiff geladen“ gesanglich auf dem Niveau engagierter aber untalentierter Straßenmusikanten, die zur Weihnachtszeit um milde Gaben bitten. Eigentlich unglaublich, daß Lutz Ulbrich, der Mann hinter Lüül, anno 2004 den deutschen Schallplattenpreis für sein letztes Album bekommen hat, aber gut, das steht hier nicht zur Debatte.

Ebenfalls nicht überzeugen können mich Joni und Joni mit dem braven, 60er-Jahre-Flower-Power geschwängerten „So nimm meine Hände“, wenn auch die Gesangsleistung in Ordnung geht. Extravagant dagegen gehen Workshop die Sache an. Fast industrialmäßig kommt „Herr, gib mir Mut zum Brücken bauen“ daher. Die piepsende, verzerrte Stimme ist zwar Geschmackssache, aber Kai Althoff und Stephan Abry beweisen damit immerhin Mut zum Experiment. Im Gegensatz dazu verbreiten Die Praktikanten mit Akkordeon und Akustikgitarre bei „Der Mond ist aufgegangen“ biedere Lagerfeuer-Weltjugendtagsromantik. Ganz leise mit den klassischen Instrumenten Kontrabass, Saxophon und Flöten in Verbindung mit einem harmonischen Duett erklingt danach „Wach auf, mein Herz, und singe“ des Trios A.R.S., bevor Der Bote mahnt „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“. Man merkt diesem Song deutlich an, daß mit Boris Delic ein Mann am Werk ist, der sonst in einer Rammstein-Coverband (Feuerengel) am Mikro steht. Harte Riffs schneiden abrupt, jedoch gekonnt melodiöse Passagen ab. Eine sehr passende Interpretation des Liedes aus dem Jahre 1638. Ebenfalls gitarrenlastig, aber mehr in die alternative Ecke gehend, rocken sich Snubnose durch das alterwürdige „Befiehl du deiner Wege“.

Anschließend folgt das genaue Gegenteil, Zeitblom's elektronische, auf jegliche Perussions verzichtende Fassung von „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“, zart eingesungen von der Japanerin Hitomi Makino. Die wohl außergewöhnlichste Arbeit steuert Nicolas Weiser zum Schluß bei. Text und Melodie von „Die ganze Welt, Herr Jesu Christ“ werden beinahe bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und sparsam mit künstlichen Geräuschen unterlegt. Ich kann natürlich nicht sagen, welche Songs der CD beim lieben Gott auf Wohlwollen stoßen, meine Favoriten sind jedoch ganz klar die Beiträge von arbeit, Der Bote und Zeitblom feat. Hitomi Makino.

Die restlichen Tracks bewegen sich in dem weiten Feld zwischen interessant und banal, was eine Bewertung nicht ganz einfach macht. Angesichts der Tatsache, daß nur die obengenannten 3 Songs wirklich hervorstechen, scheint mir eine Punktezahl leicht oberhalb des Durchschnitts angebracht. P.S. Zu beziehen ist die CD übrigens neben dem Label auch über den Buchhandel bzw. das evangelische Magazin chrismon, welches das Projekt unterstützt hat. http://www.chrismon-shop.de

P.P.S. Da es in unserem Genreverzeichnis die Kategorie „Kirchenmusik“ nicht gibt, habe ich mich für das am ehesten passende Genre Experimental entschieden.